Laut Statistischem Bundesamt steigt die Armutsgefährdungsquote weiter an. Dabei werden etliche Menschen aus der Statistik rausgerechnet.
Arm sein ist ganz und gar nicht sexy – auf gegenteilige Ideen können nur hochbezahlte Staatsbedienstete kommen, die alles unter Marketinggesichtspunkten bewerten und für die »Armut« lediglich ein abstrakter Begriff ist. Wer sich, selbst wenn er mit dem Hauptstadtflughafen BER Deutschlands teuerste Langzeitbaustelle geschaffen hat, keine Sorgen um seine monatlichen Bezüge zu machen braucht wie Klaus Wowereit (SPD), der ehemalige Regierende Bürgermeister von Berlin, dem gehen solche Floskeln leicht über die Lippen. Wer allerdings nach der Anhebung der Hartz-IV-Bezüge um wenige Euro, die am Mittwoch beschlossen wurde, noch immer nicht weiß, wie er am Ende des Monats das Abendbrot bezahlen soll, kann über solche Phrasen nicht mal mehr müde lächeln.
Und Deutschland wird immer ärmer, zumindest ein Großteil der Bevölkerung. Am Donnerstag veröffentlichte das statistische Bundesamt neue Zahlen zur Armutsgefährdung. Diese ist bedenklich gestiegen in den vergangenen zehn Jahren: In Nordrhein-Westfalen galten im vergangenen Jahr 17,5 Prozent der Einwohner als arm – das ist ein Anstieg um 3,1 Prozentpunkte im Vergleich zu 2005. In den Stadtstaaten Berlin und Bremen sieht es sogar noch schlimmer aus: Jeder vierte bis fünfte gilt hier als arm. Und auch die Bundesländer, in denen die Armutsgefährdung überdurchschnittlich gesunken ist, wie Mecklenburg-Vorpommern (21,7 Prozent), Sachsen-Anhalt (20,1 Prozent) oder Brandenburg (16,8 Prozent), bewegen sich noch immer auf einem hohen Niveau. Generell ist die Quote in Ostdeutschland mit 19,7 Prozent fünf Punkte höher als im Westen.
Dabei tut die Politik alles, um die offiziellen Zahlen zu schönen. Der Vergleichswert wird dynamisch mit Hilfe des mittleren Einkommens festgelegt: Die Hälfte in der BRD verdient mehr, die andere weniger. Wer nur auf 60 Prozent dieses Wertes kommt, gilt als armutsgefährdet. Diese Schwelle lag 2015 bei 942 Euro. In die Statistik fließen allerdings nicht alle Personen gleichermaßen ein, die mit sowenig Geld auskommen müssen: Der ersten erwachsenen Person in einem Haushalt wird ein »Bedarfsgewicht« 1 zugeordnet. Weitere Menschen im gleichen Haushalt, die älter als 14 Jahre sind, werden aber lediglich mit 0,5 »gewichtet«, Kinder mit einem Faktor von 0,3. Auf dieses Zahlenspiel hat sich die OECD verständigt, weil angenommen wird, dass sich durch gemeinsames Haushalten sparen lasse. Arm sind die Leute aber so oder so, ob sie die Stromrechnung gemeinsam tragen müssen oder allein.
Auf ein Konzept, der immer deutlicher hervortretenden Armut zu begegnen, wartet man allerdings vergeblich. Vielleicht auch, weil die Vorstellung, von einem Einkommen unter tausend Euro im Monat leben zu müssen, Entscheidungsträgern in diesem Land sehr fremd ist. Sogar wenn sie ihren Job verlieren, werden sie nicht in der Schlange vor dem Jobcenter stehen und ihre gesamten privaten Verhältnisse offenlegen müssen, um Leistungen beziehen zu können. Daniela Augenstein, die ehemalige Sprecherin des Berliner Senats, die am Dienstag nach 21 Monaten in den Ruhestand versetzt wurde, bekommt als Beamtin ein sogenanntes Ruhegehalt als Übergangsgeld: Drei Monate lang stehen ihr volle Bezüge in Höhe von monatlich 8.906 Euro zu, weitere 21 Monate etwa 72 Prozent, also 6.390 Euro. Um auf eine solche Summe, insgesamt 160.908 Euro, zu kommen, müssten Menschen mit einem »Einkommen« von 942 Euro mehr als 14 Jahre lang arbeiten.