»Das ABAKKANA-Prinzip«

Lohnt es sich, anderen zu helfen?

Ein US-Psychologe erforscht, warum Geben erfolgreicher ist als Nehmen.

Wird Adam Rifkin um einen Gefallen gebeten, überlegt er kurz. Kostet es bloß ein paar Minuten, hilft er gern. Eine einfache Regel leitet den Software-Unternehmer durchs Leben: „Du solltest helfen, wenn es dich nur fünf Minuten kostet. Egal wem. „Mit dieser Maxime ist Rifkin zu einer der einflussreichsten Personen im Silicon Valley aufgestiegen – ausgerechnet im sagenumwobenen Innovationslabor in Kalifornien, wo sich kreative Erfinder und Entwickler einen knallharten Kampf um die lukrativsten Zukunftsideen liefern. Dort suchte das US-Wirtschaftsmagazin „Fortune“ vor zwei Jahren nach dem besten Netzwerker. Auf dem ersten Platz landete kein Internetmilliardär, niemand von Facebook oder Google, sondern ebenjener Adam Rifkin, ein eher introvertierter „Star Trek“-Fan. Er pflegt vorzügliche Kontakte zu erfolgreichen Internet- und Computerunternehmern, Programmierern und Software-Designern. Wie hat er das geschafft?

Vielleicht, weil er furchtbar nett ist. Als Student begeisterte er sich für die Punkband Green Day, die damals noch kaum jemand kannte. Rifkin programmierte eine Internetseite, die bald viele Menschen erreichte – auch einen anderen Studenten namens Graham Spencer. Der hielt die Musik von Green Day aber für Pop und schrieb an Rifkin, Punk-Interessierte sollten online andere Gruppen als Green Day finden können. Prompt erstellte Rifkin eine weitere Seite, die auf Punkbands nach dem Geschmack von Spencer, den er nie gesehen hatte, verwies. Erst fünf Jahre später sollten sich die beiden zum ersten Mal treffen.

Wer hilft, tut dabei auch etwas für sich

Rifkin zog damals gerade ins Silicon Valley und kontaktierte den Punk-Fan von damals, der es als Internetunternehmer zum Multimillionär gebracht hatte. Kurz darauf stellte Spencer Rifkin einen Investor vor, der schließlich in dessen erste Firma investierte.

Spät zahlte sich also für Rifkin aus, dass er einem Unbekannten einen Gefallen erwiesen hatte. Zufall? Oder der verdiente Lohn der guten Tat?

Für Adam Grant steht die Antwort fest, er glaubt an die große Kraft der Nettigkeit. Grant ist Psychologe und Management-Professor an der renommierten Wharton Business School der University of Pennsylvania. Rifkins Netzwerk-Erfolg führt er als Paradebeispiel in seinem neuen, sehr erfolgreichen Buch an: „Give and Take: A Revolutionary Approach to Success“ (die deutsche Ausgabe: „Geben und Nehmen. Erfolgreich sein zum Vorteil aller“ erscheint am 1. Oktober im Droemer-Verlag). Amerikanische Medien und Wirtschaftsbosse lieben den jungen, freundlichen Professor, der eine neue Perspektive auf erfolgreiche Lebenswege bietet.

Grants Bestlseller ist weit mehr als bloß ein Karriereratgeber, er ist eine Anleitung zum besseren Umgang miteinander. Eines der bemerkenswerten Forschungsergebnisse besagt: Die guten Typen schaffen es überdurchschnittlich oft bis ganz nach oben – Menschen, die ohne Gegenleistung geben, die Freunden helfen und Fremden Ratschläge anbieten. Sie schauen darauf, was andere brauchen und wie sie ihnen helfen können. Sie teilen ihr Wissen, ihre Energie, ihre Verbindungen mit anderen. Und sie sind gerade deswegen erfolgreich.

Auch Adam Grant hat, obwohl erst 32 Jahre alt, schon eine beachtliche Karriere hingelegt. Er ist Professor auf Lebenszeit, seine Vorlesungen und Seminare werden von den Studenten regelmäßig mit Höchstnoten bedacht. Er hat bereits in mehr hochrangigen Fachzeitschriften seine Forschungsergebnisse veröffentlicht als viele Kollegen in einem langen Berufsleben. Regelmäßig laden ihn Unternehmen wie Google oder das US-Militär zu Vorträgen ein.

Was hat Nettigkeit an US-Arbeitsplätzen zu suchen?

Doch lebt der Überflieger Werte wie Hilfsbereitschaft und Großzügigkeit tatsächlich in seinem Alltag? Das „New York Times Magazine“ hat Grant auf dem Campus seiner Universität begleitet und beschreibt, wie er von Studenten umschwärmt wird, während er nach der Vorlesung in sein Büro geht. Die jungen Leute wollen, dass er sie bei der Jobwahl berät, eine Empfehlung schreibt oder einen Kontakt vermittelt. Grant lehnt keine Bitte ab, er versucht, selbst Fremden weiterzuhelfen. Seine Sprechstunde dauert manchmal länger als vier Stunden. Wenn er nach Hause kommt, warten nicht selten Hunderte ungelesener Nachrichten auf ihn. Wie schultert er dieses Pensum und bleibt dabei so erfolgreich und produktiv?

Eins wird schnell klar: Adam Grant fühlt sich gut bei dem, was er tut. Er sagt: „Ich schaue auf die vielen Mails und frage mich: Wie kann ich dem Empfänger am meisten helfen?“ Wo andere Menschen eine Menge Arbeit sehen, sieht Grant Möglichkeiten, mit wenig Aufwand etwas Gutes zu tun.

In der US-Arbeitswelt klingen Wörter wie Großzügigkeit und Nettigkeit noch immer exotisch. Amerikaner glauben an den amerikanischen Traum, dass jeder es schaffen kann, doch dafür auch hart arbeiten muss. Zwar spenden US-Bürger weit mehr als Europäer für wohltätige Zwecke, sie organisieren uneigennützig Straßenfeste in ihrer Nachbarschaft, räumen den Park auf. Hilfsbereitschaft gegenüber Freunden und Familienmitgliedern ist ihnen ein geheiligter Grundsatz. Doch am Arbeitsplatz hat Nettigkeit in den USA wenig zu suchen, dort herrscht die Maxime des Nehmens – so sieht es jedenfalls aus.

Die Nehmenden, wie Grant sie nennt, wollen so viel wie möglich für sich herausholen, um dadurch ihren Erfolg zu maximieren. Sie stellen ihre Interessen über die anderer Menschen und der Gemeinschaft. Ihr Weltbild ist sozialdarwinistisch geprägt, ihr Leitsatz lautet: Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an alle gedacht. Sie zögern nicht, ihre eigenen Leistungen herauszustellen, und fordern offen Anerkennung für die eigene Arbeit ein. Sie seien deswegen keine schlechten Menschen, sagt Grant. „Sie sind nur vorsichtig und wollen sich selbst beschützen.“

„Hilfst du mir, so helfe ich dir“

Auch Nehmende helfen – aber nur dann, wenn sie sich einen direkten Vorteil davon versprechen. Sie verhalten sich also ganz anders als die Gebenden.

Grant zufolge bewegen sich die meisten Menschen in einem Spektrum zwischen diesen beiden Extremen; er nennt sie Matcher, die Ausgleichenden. Sie glauben daran, dass es in der Welt gerecht zugeht: „Hilfst du mir, so helfe ich dir.“

Psychologen der Yale University haben nachgewiesen, dass die meisten Menschen in engen Beziehungen mit Freunden, dem Partner oder der Familie gern geben und teilen. Doch nicht selten werden aus großzügig Gebenden am Arbeitsplatz egozentrische Nehmende – was in einer Berufswelt, die auf Wettbewerb und Effizienz ausgerichtet ist, ja auch logischer klingt als Grants Anleitung zum Guten.

Dass er dennoch recht haben könnte, zeigt auch der Blick auf die Karriere eines amerikanischen Hinterwäldlers, der als einer der größten Präsidenten der Vereinigten Staaten in die Geschichte eingehen sollte: Abraham Lincoln. Als er sich 1855 zum ersten Mal in seinem Heimatstaat Illinois um einen Sitz im Senat der USA bewarb, hatten seine Konkurrenten James Shields und Lyman Trumbull alle Vorteile auf ihrer Seite: Beide stammten aus gutem Hause, konnten Erfahrungen als Richter am höchsten Gericht des Bundesstaats und beste Kontakte in die Politik vorweisen.

Dennoch führte Lincoln nach dem ersten Wahlgang knapp. Die Zeichen wendeten sich, als der Gouverneur des Bundesstaats Illinois die Arena betrat und sich ebenfalls um den Senatssitz bewarb. Er übernahm schnell die Führung in den folgenden Wahlgängen, brachte Shields zum Aufgeben und ließ Trumbull wie den sicheren Verlierer aussehen.

Geben bringt Kontakte, und die bringen Erfolg

Im letzten Wahlgang gewann Trumbull dennoch die Wahl zum Senator für Illinois. Was war passiert? Lincoln hatte das Feld zugunsten von Trumbull geräumt und seinen Anhängern empfohlen, ihr Kreuz hinter Trumbulls Namen zu setzen. Sein Ziel war es zu verhindern, dass der Gouverneur weiterhin Karriere machte, da er an dessen Aufrichtigkeit zweifelte.

Trotzdem klingt Lincolns Entscheidung unlogisch: Warum versuchte er nicht, Trumbulls Anhänger für sich zu gewinnen und selbst zu siegen? Die Antwort liegt in Lincolns Persönlichkeit. „Wenn ich eine Schwäche habe – anders kann ich es nicht nennen -, ist es, dass ich niemals nein sagen kann“, so Lincoln. Er war ein Gebender, doch er schaffte es, dass diese Schwäche nicht ausgenutzt wurde. Er dachte zwar immer an die anderen, vergaß darüber aber nie seine eigenen Interessen.

Bekanntlich geht die Lebensgeschichte von Lincoln weiter: 1860 wurde er zum Präsidenten der USA gewählt. Als er sein Kabinett bestimmte, suchte er nicht etwa verdiente Helfer oder langjährige Freunde für die Ministerposten aus – sondern ehemalige politische Gegner, die er bei seinem Weg ins Weiße Haus hinter sich gelassen hatte. „Wir brauchen die besten Männer in unserem Kabinett“, erklärte er einem erstaunten Reporter. Jedes seiner Kabinettsmitglieder war bekannter, erfahrener und gebildeter als der Präsident, schreibt die Historikerin Doris Kearns Goodwin in ihrem Buch „Team of Rivals“. Für Lincoln stand das Interesse der Nation im Vordergrund, nicht das eigene Ego. Er ist ein Musterfall dafür, wie Gebende nach ganz oben kommen können.

Einige Dinge unterscheiden natürlich die Arbeitswelt 2013 von der Lincolns. Der Politiker aus Illinois brauchte Jahre und Jahrzehnte, bis sich sein Ruf herumsprach. In Zeiten von sozialen Netzwerken wie Facebook, Business-Netzwerken wie LinkedIn oder Xing ist das nur eine Frage von Wochen oder Stunden, bis sich gute Taten herumsprechen und so Reputation entsteht. Vielleicht war ein guter Name nie wichtiger als heute, er öffnet in einer vernetzten Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft Türen und bringt Aufträge. Grant schreibt: „Gebende bauen Reputation und Beziehungen auf, die sie zu größerem Erfolg führen.“

Wie das funktioniert, lässt sich an einem einfachen Beispiel studieren. Grant hat in einer Studie die Umsätze Hunderter Verkäufer einer Optiker-Kette in den USA verglichen. Verkäufer, die unter Grants Kategorie der Nehmenden fielen, verfolgten vor allem das Ziel, einen möglichst großen Profit zu machen. Gebende hingegen wollten in erster Linie den Kunden helfen. Sie hörten ihnen zu, sie versuchten zu verstehen, welche Wünsche sie hatten – und konnten so genauer anbieten, was die Leute brauchten. Also waren die Verkaufszahlen der Gebenden am Jahresende weit besser als die der Nehmenden.

Narzissten als Chefs können ihrer Firma schaden

In einer bahnbrechenden Arbeit hatte Grant noch als Student ein Callcenter untersucht, das Anzeigenkunden für einen Reiseführer akquirieren sollte. Die Erlöse aus dem Verkauf der Anzeigen flossen bedürftigen Studierenden zu. Grant stellte der Hälfte der Mitarbeiter Stipendiaten vor, die ihnen berichteten, wie sehr sie von dem Geld profitierten. Einen Monat später untersuchte Grant erneut, wer erfolgreich neue Kunden gewonnen hatte. Die Gruppe, der klar war, was ihre Arbeit konkret bewirkte, war viel motivierter und erfolgreicher als die Vergleichsgruppe.

Doch Geben will gelernt sein. Gebende müssen genau aufpassen, nicht ausgenutzt zu werden – etwa von Narzissten, die laut Studien von Psychologen leicht einen guten ersten Eindruck machen, weil sie sympathisch und aufgeschlossen auftreten, über Selbstbewusstsein und Humor verfügen.

Doch je länger eine Beziehung dauert, desto offener tritt zutage, dass Narzissten weniger interessiert an ihrem Gegenüber sind, sie reagieren gereizt auf Kritik und verhalten sich dominant. „Gerade in komplexen Führungsstrukturen können Narzissten als Vorgesetzte ihrem Unternehmen sogar schaden – etwa dadurch, dass bestimmte Informationen nicht zu ihnen durchdringen“, sagt der Psychologe Mitja Back, der an der Universität Münster unterrichtet.

Wer erfolgreich geben will, muss solche Narzissten erkennen, um sich von ihnen nicht ausnutzen zu lassen. Wer richtig gibt, denkt zudem zwar an seine Mitmenschen, hat aber eine klare Vorstellung von den eigenen Prioritäten. Grant nennt in seinem Buch die „100-Stunden-Regel“ als Anleitung. Wer seine altruistischen Stunden pro Jahr auf diese Zahl beschränke, könne seine Hilfsbereitschaft auf das konzentrieren, was ihm selbst Freude bereite – und könne dieses gute Gefühl steigern, wenn er den Erfolg seiner Bemühungen sehe.

„Adam, sag einfach mal nein“

So schön und einleuchtend Grants Thesen klingen, sie sind nicht unumstritten. Sein ehemaliger akademischer Lehrer Jerry Davis, Wirtschaftsprofessor an der University of Michigan, hat Einwände. Er findet Grants Erklärung, jeder Gebende könne sich besser fühlen, sobald er die positiven Folgen seiner Arbeit sehe, unter bestimmten Umständen beinahe zynisch. Als Beispiel nennt er unwürdige Bedingungen der Arbeiter von Apple in China: „Die Arbeiter begehen keinen Selbstmord mehr, wenn man ihnen zeigt, wie glücklich Kunden im Westen mit ihren iPhones sind?“Einige Beispiele in Grants Buch wirken zudem konstruiert: So kann er sich seine eigene exzessive Hilfsbereitschaft nur erlauben, weil seine Frau sich daheim um die beiden Kinder kümmert und einen Großteil der Haushaltsaufgaben übernimmt. Der Reporterin des „New York Times Magazine“ erzählte Grants Frau Allison: „Manchmal rate ich ihm: ,Adam, sag einfach mal nein.‘ Aber er kann nicht nein sagen. So ist er halt.“ Auch warum manche Menschen Gebende werden, andere hingegen Nehmende, lässt Grant weitgehend unbeantwortet – selbst seine eigene Entwicklung kann er nicht schlüssig erläutern.

Der heutige akademische Superstar beschreibt sich als schüchternen Teenager, der sich unbehaglich fühlte, wenn er mit anderen Menschen kommunizieren musste. Noch heute, erzählt Grant, fühle er sich unwohl, wenn er nicht weiß, was sein Gegenüber von ihm erwarte. Ein ehemaliger Mitbewohner habe ihm daher unterstellt, Grant stürze sich einfach in Arbeit, sobald er Angst verspüre – in der Psychologie eine durchaus bekannte Erklärung.

Grant bevorzugt freilich eine andere, schlichtere Erklärung. „Meine Mutter hat sich selbst immer ein Helfer-Gen bescheinigt. Vielleicht habe ich das schlicht von ihr geerbt.“

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