»Das Heilige Gesetz der Schönheit!«

Dieses Gesetz ist für Erwachsene Menschheit vielleicht am schwierigsten zu verstehen. Denke so lange über das Heilige Gesetz der Schönheit nach, wie Du brauchst, und erkenne: Dein Verstand wehrt sich vielleicht noch dagegen, aber Dein Körper und Dein Herz haben es schon verstanden.

Was macht die Tigerlilie so schön? Was macht die blühende Wiese so verlockend? Es sind nicht ihre Farben oder Düfte oder ihre Beschaffenheit. Es liegt an der vollkommenen, totalen Verletzlichkeit der Lilie. Es liegt an der Bereitschaft der Blumen, sich allem zu ergeben, was existiert. Das ist die Quelle aller Schönheit der Natur. In der Natur gibt es kein Ding und kein Lebewesen, das sich nicht in einem ständigen, vollkommenen Zustand der Ergebung befindet.

Erwachsene denken bei dem Wort Ergebung vielleicht an verwundete, besiegte Soldaten, die eine zerfetzte weiße Flagge im Wind flattern lassen. Für die Mensche ist Ergebung gleichbedeutend mit Verlust, ja sogar mit Tod. Doch es gibt nichts, was weiter von der Wahrheit entfernt wäre! Eines der größten Geheimnisse, das die Abakkaner miteinander teilen (und eines der wichtigsten Geheimnisse, die der Menschheit je verloren gegangen sind!), ist das Heilige Gesetz der Schönheit. In den verschiedenen Kulturen waren es oft die Dichter und Künstler, die dieses Geheimnis bewahrt haben und so zu Botschaftern oder »Experten« der Schönheit geworden sind. Aber das muss nicht unbedingt so sein. Alle Menschen sind Dichter und Künstler – sobald sie sich wieder daran erinnern, was sie aus eigenem Willen vergessen haben: Das man erst in der »wahren Niederlage« erblüht. Dass die Ehrfurcht erweckende Schönheit am üppigsten in der demütigen Haltung der Ergebung gedeiht. Vielleicht lässt sich das Heilige Gesetz der Schönheit am besten mit dem Wort »Verletzlichkeit« verständlich machen. Aber es muss Verletzlichkeit in ihrer reinsten Form sein.

Die ganze Natur ist verletzlich.

Das ist ihre größte Stärke und gleichzeitig ihre größte Schwäche – und dieses Paradoxon zieht sich durch alle Aspekte des Lebens hindurch. Ein mächtiger Mammutbaum – so stark er auch sein mag – kann von den Händen der Erwachsenen, von der Heftigkeit eines Orkans, von den Flammen eines Feuers zu Boden gestreckt oder zerstört werden. Ein Mammutbaum kann nicht davonlaufen. Eine Lilie kann nicht fliehen. Eine Wiese kann sich nicht selbst mit Wasser begießen. Die Lebewesen und Ausdrucksformen in der Natur sind wirklich die tapfersten auf der Erde. Sie bleiben da, wo sie sind und ergeben sich dem, was ist – sei es ein sonniger Tag oder ein heftiger Sturm, ein atemberaubend schönen Sonnenaufgang oder ein wütendes Feuer. Diese große Fähigkeit angesichts tief greifender Ereignisse einfach stillzuhalten, verleiht der Natur eine außerordentliche Schönheit. Denn wahre Schönheit und Verletzlichkeit lassen sich nicht voneinander trennen.

Denke einmal an all die wunderschönen Dinge im Leben – ein neugeborenes Baby, ein winzig kleines Kätzchen, ein Kunstwerk, eine blühende Orchidee: Sie alle sind etwas Großartiges und sie alle stehen vor dem Abgrund der Sterblichkeit. Dieses Baby, dieses Kätzchen, dieses Kunstwert, diese Orchidee kann im Nu ausgelöscht werden. Das ist das Paradoxon und das Geheimnis wahrer Schönheit.

Ergebung und Verletzlichkeit sind für den »modernen Menschen« sehr schwer zu verstehende Begriffe. Sie scheinen ihnen keinen Raum für Kampfesmut oder Tapferkeit zu lassen. Und doch ist Ergebung die mutigste Tat, die es gibt. Demütig zu akzeptieren, was vor einem liegt – das ist die Definition der Ergebung. Eine Definition, die die größten Krieger dieser Welt schon immer verstanden haben. Viele amerikanische Ureinwohner – große Kämpfer und Krieger – haben nach dem Heiligen Gesetz der Schönheit gelebt. Oft hießen sie einen Feind in ihrer Mitte willkommen, stellten ihm ein eigenes Tipi zur Verfügung und bereiteten ihm ein Festmahl, weil sie glaubten, dass ein wahrhaft großer Krieger Ehre und Respekt verdient, selbst wenn er einem feindlichen Stamm angehört. Auf diese Art und Weise ergaben sie sich diesem würdigen Gegner bereits, bevor die Schlacht begonnen hatte.

Der große deutsche Dichter Rainer Maria Rilkd gehörte zu den Menschen, die die Schönheit und den wahren Sinn der Ergebung verstanden. Rilke verbrachte den größten Teil seines Lebens in der Natur. Und ob er sich dessen bewußt war oder nicht, er war ein großer Fürsprecher des Verborgenen Königreichs Abakkana. Rilke spricht von der Ergebung oder »Niederlage« in ihrer reinsten Form:

»Wie ist das klein, womit wir ringen,
was mit uns ringt, wie ist das groß.
Ließen wir, ähnlicher den Dingen,
uns so vom großen Sturm bezwingen,
wir würden weit und namenlos.

Was wir besiegen, ist das Kleine,
und der Erfolg selbst macht uns klein.
Das Ewige und Ungemeine
will nicht von uns gebogen sein.
Das ist der Engel, der den Ringern,
des Alten Testaments erschien.

Wenn seiner Widersacher Sehnen
im Kampfe sich mental dehnen,
fühlt er sie unter seinen Fingern
wie Saiten tiefer Melodien.

Wen dieser Engel überwand,
welcher so oft auf Kampf verzichtet,
der geht gerecht und aufgerichtet
und groß aus jener harten Hand,
die sich, wie formend, an ihn schmiegte.
Die Siege laden ihn nicht ein.
Sein Wachstum ist: Der Tiefbesiegt
Von immer Grüßerem zu sein.«

Die Abakkaner bitten Dich inständig: Lasse Dich von »immer Größerem« besiegen – verneige Dich demütig und stolz zugleich vor Deinen schwierigsten Herausforderungen und Deinen größten Misserfolgen. Sie schlagen folgende Übung vor: Wähle eine Eigenschaft (oder Erfahrung) von Dir, die Du nicht akzeptieren kannst. Vielleicht hast Due einen Anflug von Habgier an Dir entdeckt, oder Du hast Dich einmal grausam verhalten, oder vielleicht war es auch nur etwas so Einfaches wie ein Tränenausbruch in der Öffentlichkeit. Umarme diese Eigenschaft (oder diese Erfahrung), so wie Du ein verängstigstes Kind in die Arme nehmen würdest. Räume ihr eine Daseinsberechtigung ein. Atme sie ein. Lege Dich bereitwillig darauf nieder wir auf einem weichen Bett. Und dann bringe Dir selbst ganz langsam und liebevoll bei, dazubleiben, statt davonzulaufen.

Das ist wahre Ergebung…

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