2008 brachen die drei größten Banken Islands zusammen. Heute geht es wieder aufwärts mit Island. Anleger, die auf fette Zinsen gesetzt hatten, wurden per Volksabstimmung nicht entschädigt.
Was ist das für eine Krise, die man nicht sehen, nicht anfassen, nicht riechen und nicht schmecken kann? Die Hotels sind ausgebucht, die Cafes voll, in den Geschäften mangelt es an nichts. Der Besucher wundert sich nur, dass isländische „Tomatar“ doppelt so teuer sind wie die aus Italien importierten. Und in der Harpa, dem neuen Opern- und Konzerthaus von Reykjavik, dessen Bau 170 Millionen Euro gekostet hat, spielt Ian Anderson, inzwischen 64, mit einer verjüngten Jethro Tull-Band „Thick As A Brick“, das famose Album aus dem Jahre 1972 in voller Länge. Der große Saal mit 1800 Plätzen ist bis auf den letzten Sitz ausverkauft, obwohl die Karten 50 bis 60 Euro kosten.
„Man sieht in der Tat nichts“, sagt Olafur Isleifsson, Professor an der „Haskolinn i Reykjavik“, der größten privaten Hochschule des Landes. Sie bildet Ökonomen, Computerwissenschaftler, Ingenieure und Juristen aus. Olafur (57) hat seinen Bachelor in Mathematik an der Universität von Island und seinen Master in Volkswirtschaft an der London School of Economics gemacht, beim International Monetary Fund in Washington und der isländischen Zentralbank gearbeitet und den isländischen Ministerpräsidenten Thorstein Palsson beraten. Seit 2003 unterrichtet er Volkswirtschaft und Statistik an der „Haskolinn“.
Es war eine Neutronenbombe
„Und wollen Sie wissen, warum man nichts sieht?“ Olafur macht ein Gesicht wie ein Pokerspieler, kurz bevor er seine Karten aufdeckt. „Als am 6. Oktober 2008 der damalige Ministerpräsident Geir Haarde den Notstand ausrief und seine Ansprache an das Volk mit den Worten ‚Gott segne Island‘ beendete, dachten wir, über uns wäre eine Atombombe explodiert. Aber es war keine Atombombe, es war eine Neutronenbombe. Und eine Neutronenbombe zerstört keine Häuser, sie vernichtet nur ‚paper assets‘, Papierwerte.“
Die Bilanzsumme der drei größten isländischen Banken, die kollabiert waren, hatte Anfang 2008 noch das Zehnfache des isländischen Bruttosozialprodukts betragen. Keine Regierung der Welt wäre in der Lage gewesen, die Banken zu retten, sie wurden innerhalb weniger Tage verstaatlicht. Wie es so weit kommen konnte, das fragen sich die Isländer seit fast vier Jahren jeden Tag aufs Neue.
„Es kam zu einer Kettenreaktion. Unternehmen bekamen keine Kredite und gingen Pleite, die Arbeitslosigkeit stieg auf fast zehn Prozent an, die isländische Krone wurde um 50 Prozent abgewertet.“ Was unter anderem zur Folge hatte, dass Isländer, die sich von ihren Banken überreden ließen, günstige Hypotheken in Euro oder Dollar aufzunehmen, die Darlehen nicht mehr bedienen konnten, weil sie, umgerechnet in Kronen, das Doppelte bezahlen mussten. Wer sich zum Beispiel zehn Millionen Kronen für eine Wohnung geliehen hatte, stand plötzlich mit 20 Millionen Kronen in der Kreide – oft mehr als die Immobilie wert war.
Das Programm hieß „Icesave“
Olafur setzte sich für die „amerikanische Lösung“ ein. Statt ein Leben lang ein Haus oder eine Wohnung abzuzahlen, die ihnen nicht gehörte, sollten die Eigentümer, so sein Vorschlag, „das Haus räumen, die Schlüssel an die Bank schicken und woanders hinziehen“. Er konnte sich aber nicht durchsetzen. Immerhin verzichteten die inzwischen verstaatlichten Banken auf einen Teil ihrer Forderungen gegenüber den Kreditnehmern.
Richtig angeschmiert dagegen waren etwa 300.000 Engländer und 120.000 Holländer, die, angelockt durch hohe Zinsen, ihre Ersparnisse bei der größten isländischen Bank, Landsbanki, angelegt hatten. Das Programm hieß „Icesave“ und war alles andere als sicher. Die Briten verloren etwa fünf Milliarden Euro, die Niederländer rund 1.7 Milliarden.
Die isländische Regierung erklärte sich bereit, die Anleger teilweise zu entschädigen, das isländische Parlament verabschiedete, wenn auch mit knapper Mehrheit, ein entsprechendes Gesetz.
Präsidenten-Veto gegen Entschädigung
Doch dann passierte etwas, womit niemand gerechnet hatte. Präsident Ólafur Ragnar Grímsson legte ein Veto gegen das Gesetz ein, er verweigerte seine Unterschrift. (Das hatte er schon einmal getan, 2004, gegen ein neues Mediengesetz.) Die Briten und die Holländer tobten und drohten mit Sanktionen, die Isländer waren begeistert und forderten eine Volksabstimmung, ein Novum in der Geschichte des Landes.
Bei dem Referendum vom 6. März 2010 stimmten 93 Prozent der Isländer gegen das Entschädigungsgesetz. Die Regierung fürchtete um ihre Glaub- und Kreditwürdigkeit und legte dem Parlament eine modifizierte Fassung des Gesetzes vor, die mit großer Mehrheit angenommen wurde. Die Laufzeit sollte bis 2046 verlängert werden, die jährlichen Zahlungen höchstens fünf Prozent der Staatseinnahmen betragen. Präsident Grimsson verweigerte auch diesmal seine Unterschrift. Bei einem zweiten Referendum am 9. April 2011 stimmten 57 Prozent der Isländer gegen das Gesetz.
„Das war eine moralisch richtige und ökonomisch vernünftige Entscheidung“, sagt Olafur, „Anleger, die sich durch hohe Zinsen verführen lassen, müssen auch das Risiko tragen.“ Zudem wollten die Isländer nicht einsehen, warum sie für die spekulativen Geschäfte der Banken haften sollten. „So lange alles gut ging, haben die Banker ihre Gewinne mit uns auch nicht geteilt.“
Keine Vergesellschaftung von Verlusten
Die Idee, dass Gewinne privat abgeschöpft, Verluste aber vergesellschaftet werden, die sich in Europa inzwischen durchgesetzt hat, passt nicht zu der Natur der Isländer, die individuelle Verantwortung für ein hohes Gut halten. Man kann Erfolg haben, man kann auch scheitern, aber man soll niemand für das eine oder das andere verantwortlich machen. In dieser Beziehung hinken die Isländer den Europäern hinterher oder – sie sind ihnen weit voraus.
„Es geht uns gut“, sagt Olafur, die Arbeitslosigkeit gehe zurück, liege aber mit etwa fünf Prozent noch immer über dem Stand von 2008; seit einem Jahr gehe es mit der Wirtschaft wieder bergauf, für 2012 rechnen die Ökonomen mit einem Wachstum von 2,5 Prozent. Allerdings sei die Inflation mit etwa sechs Prozent besorgniserregend. Dennoch: „Wir sind dabei, uns am eigenen Zopf aus dem Sumpf zu ziehen.“
Die Banken haben aufgehört, weltweit zu operieren und dienen jetzt den Einheimischen, die Fischerei macht große Umsätze und satte Gewinne, die Bauwirtschaft, die 2008 zum Stillstand kam, kommt wieder in Fahrt. Und seit die isländische Krone abgewertet wurde, ist das Land für Touristen attraktiver geworden, nicht gerade billig aber auch nicht viel teurer als Italien oder Österreich. „Wir sind wieder in der Wirklichkeit angekommen.“
Niemand redet mehr vom Euro
Es werde, sagt Olafur, noch einige Jahre dauern, bis die Folgen der Finanzkrise von 2008 überwunden sein werden. Eines aber sei jetzt schon klar: Über einen Beitritt zur EU oder die Einführung des Euro redet niemand mehr.
Die Isländer haben die hämischen und schadenfrohen Kommentare der Europäer aus der Zeit der Krise nicht vergessen. Aber sie sind nicht nachtragend. Sie wissen, dass sie auf den europäischen Markt angewiesen sind. Wer sonst soll ihren Fisch kaufen, ihre Schriftsteller lesen und Björks Platten hören? „Wir wünschen den Europäern von Herzen alles Gute“, sagt Olafur und gibt dem Besucher einen Rat mit auf den Heimweg: „Wenn Sie wissen wollen, wie wir sind und warum es uns noch immer gibt, müssen Sie ein Buch lesen: ‚Am Gletscher‘ von Halldor Laxness.“