Berlin – »Die Haftung Deutschlands für den dauerhaften Rettungsfonds ESM ist auf 190 Milliarden Euro begrenzt!« Diesen Satz wiederholte Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) wie ein Mantra. Doch nun schlägt ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags hohe Wellen.
Hat der Bundestag, haben die Vertreter des deutschen Volks, Sonderfälle geschaffen, die Deutschland zum Selbstbedienungsladen für Euro-Retter machen?
Laut einem Bericht der Zeitungen der WAZ-Mediengruppe sind die Kontrollrechte des Bundestags beim ESM nicht so umfassend wie von der Bundesregierung angegeben. Die Zeitungen berichten unter Berufung auf ein vertrauliches Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags, der ESM könne auch von Deutschland weitere Bareinzahlungen in Milliardenhöhe abrufen, ohne dass dagegen eine Veto-Möglichkeit von deutscher Seite besteht.
Kapitalabruf ohne Veto-Möglichkeit
Dabei geht es um den Fall, dass mögliche Verluste des Rettungsfonds beim eingezahlten Stammkapital von 80 Milliarden Euro ausgeglichen werden müssen. In diesem Fall könnte das ESM-Direktorium – anders als bei einer Erhöhung des Kapitals oder des Darlehensvolumens – das Geld mit einfacher Mehrheit von den ESM-Mitgliedsländern abrufen. Im Gutachten heißt es laut den Zeitungen der WAZ-Mediengruppe, dass Deutschland sich dann mit seinem Anteil von 27 Prozent der Stimmrechte »letztlich gegen einen Kapitalabruf nicht sperren könnte«.
Das Gutachten wurde von Abgeordneten der Linken in Auftrag gegeben. Parteichef Bernd Riexinger sagte der »WAZ« , die Behauptung, dass Geld zur Euro-Rettung nur mit Zustimmung des Bundestags fließe, sei »eine Lüge«. »Deutschland kann sogar gegen den Willen des Parlaments zur Zahlung zweistelliger Milliardenbeträge in die Euro-Kasse verpflichtet werden.«
700 Milliarden – oder gleich das Doppelte
»Die Verlustdeckungshaftung ist ein alter Hut, weil sie den Kennern des Vertrags schon lange bekannt ist«, sagte der FDP-Bundestagsabgeordnete Frank Schäffler gegenüber manager magazin online. Die Deckelung des deutschen ESM-Beitrags auf 190 Milliarden Euro sei nutzlos etwa für den Fall, dass Schuldenstaaten wie Griechenland oder Spanien ihren Verpflichtungen nicht nachkämen.
»Dann müssen die zahlungskräftigen Staaten nachschießen«, so Schäffler gegenüber manager magazin online. Das verletze das Budgetrecht des Parlaments.Mit dem Gutachten im Rücken wird diese von vielen Kritikern geteilte Rechtsansicht nun gestärkt.
Stefan Homburg, Finanzwissenschaftler an den Universität Hannover, malt ein düsteres Szenario: »Aufgrund der Nachschusspflicht kann die Belastung Deutschlands auf 700 Milliarden Euro steigen«, schrieb Homburg in einem Gastkommentar für die »Frankfurter Allgemeine Zeitung«. Das entspricht dem Stammkapital des ESM. Wegen eines erhöhten Ausgabekurses könne die Nachschusspflicht aber noch weit darüber hinaus gehen.
Dies sei möglich, da der EMS-Vertrag die Haftung Deutschlands nicht auf das Kapital zum Nennwert beschränke, sondern auf den Ausgabekurs. Ein Beispiel: »Durch Verdopplung des Ausgabekurses könnte der ESM die Haftungssumme auf fast 1,4 Billionen Euro erhöhen, ohne dass es einer Vertragsänderung oder Kapitalerhöhung bedürfte«, so Homburg.
Ein zutiefst korruptes System
Das Bundesverfassungsgericht entscheidet derzeit über Beschwerden gegen den ESM, bei denen Homburg als Berater der Klägerseite fungiert. Mit einem Urteil ist nicht vor September zu rechnen. »Von großer Bedeutung für die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist die Frage, ob das Haushaltsrecht des Bundestags als Kern des Demokratieprinzips durch den ESM-Vertrag verletzt wird«, so Homburg.
Das Problem sei, dass die Entscheidungsgewalt des ESM beim Gouverneursrat liege, der aus den Finanzministerin der Mitgliedsstaaten besteht. Seine Beschlüsse seien völkerrechtlich wirksam, »auch dann, wenn der Bundestag anderer Meinung sein sollte«, so Homburg weiter. Eine Ausnahme gelte lediglich für Erhöhungen des Stammkapitals.
Mit anderen Worten: Der Bundestag hat kein Veto gegen die Nachschusspflicht im ESM. Zwar sei der deutsche ESM-Gouverneur, Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) an den Willen des Bundestags gebunden.
In der Vergangenheit hätten sich Rettungsaktionen jedoch durch eine hohe Dringlichkeit ausgezeichnet, etwa wenn sich ein Staat an den Finanzmärkten kein frisches Geld mehr besorgen könne. »Die Abgeordneten haben dann die Wahl, den Beschluss zu billigen oder ihren Finanzminister im Regen stehen zu lassen und Neuwahlen zu riskieren«, so Homburg. An dem ESM-Beschluss und der Haftung Deutschlands ändere dies aber nichts.
Der Finanzwissenschaftler kritisierte auch die Informationspolitik der schwarz-gelben Koalition. »Es fragt sich, warum diese Regeln im Vertragstext versteckt wurden und die Bundesregierung mit Verweis auf plakativere Aussagen eine angeblich wasserdichte Obergrenze behauptet, obwohl diese nicht existiert«, so Homburg. Für den ESM existiere zudem keine externe Kontrolle durch Rechnungshöfe oder gar Abgeordnete. Niemand weiß also genau, wohin vermeintliche Rettungsmilliarden fließen. »Im ESM-Vertrag ist ein zutiefst korruptes Begünstigungssystem abgelegt.«
Manager Magazin Online (09.08.2013)