Zuerst willst du leben.
Dann willst du dich entfalten.
Dann willst du dich fortpflanzen.
Und dann willst du immer mehr.
Doch ist das, was du willst, auch das, was du brauchst?
Dein Lebensweg, den du bisher gegangen bist, hat dich an den Punkt geführt, an dem wir uns hier und heute begegnen. Allerhand ist passiert in deinem Leben. Viel hast du getan, hast dich angestrengt für dies oder jenes, hast dich bewegt, dich gelenkt, geplant und entschieden. Du hast geliebt und gehasst, warst glücklich und traurig, hast verflucht und verdammt, hast gewollt und versucht, gewünscht und gehofft, gegeben und genommen, hast gekämpft und gewonnen, gekämpft und verloren. Aber wann warst du jemals wirklich am Ziel?
Vielleicht damals, als du ein Säugling warst – denn damals warst du ganz du selbst. Und dann begann deine Entwicklung zu dem denkenden Menschen, der du heute bist. Unterschiedliche Denkmuster und Verhaltensweisen haben seitdem dein Leben geprägt, und dein Denken wurde mehr und mehr zum Regisseur deiner Gefühle. Unzählige Gefühlszustände hast du mittlerweile durchlebt, Gefühle von Freude und Erfüllung, aber auch von Traurigkeit und Leid. Betrachte einfach die Gesichter von Kleinkindern und die Gesichter von Erwachsenen. Der Unterschied im Gesichtsausdruck ist offensichtlich. In den Gesichtern junger Menschen spiegelt sich Lebensfreude, die man in den Gesichtern von älteren Menschen immer seltener entdecken kann. Der innere Zustand eines Menschen prägt seinen äußeren Ausdruck. Worin liegt der Grund für den Verlust der Lebensfreude?
Kinder denken wenig, sie sind sie selbst und handeln aus sich selbst heraus, denn ihr Ego ist noch klein und schwach. Im Lauf der Jahre treten dann immer mehr Bedürfnisse auf, die befriedigt werden wollen. Wenn das nicht gelingt, entstehen belastende Gefühle und Gedanken. Darüber hinaus ist der Mensch noch vielen anderen negativen Einflüssen ausgesetzt, die ebenfalls auf seinen emotionalen Zustand wirken.
Schon bald identifiziert sich der Mensch überwiegend mit seinen Gefühlen und Gedanken, also mit dem, was er in seinem Ego erlebt, und immer weniger mit dem, was er wirklich ist. Je stärker dabei belastende Gefühle wirken, desto intensiver wird der Mensch versuchen, seine Seele vor Verletzung zu schützen. Meistens wird er durch den Einsatz seiner individuell bevorzugten „Hilfsmittel“ aus seiner von Angst und Schmerz geprägten Realität in ein Pseudo-Nirwana flüchten, anstatt die belastenden Gefühle zu durchleben und zu verarbeiten. Doch diese Flucht bringt keine Befreiung, denn die belastenden Gefühle lösen sich durch Flucht nicht auf, im Gegenteil. Das Ego wird lediglich mit Energie versorgt und zunehmend gestärkt. Es sagt in einem immer stärkeren Ausmaß „ich will, ich brauche, ich suche, ich wünsche – ICH“. Das Ego spezialisiert sich, das Ego funktioniert – und das Ego leidet. Spätestens dann identifiziert sich der Mensch überwiegend mit seinem Ego und nicht mehr mit seinem Selbst.
Zur gleichen Zeit wachsen die Gefühle von Mangel und Frustration, denn der Mensch sehnt sich immer mehr nach Identifikation mit seinem Selbst. Je stärker sich jedoch das gesunde Ich zum krankhaften Ego entwickelt, desto stärker wird das Selbst vom Ego unterdrückt. Dann denkt, fühlt und handelt der Mensch nicht mehr aus seinem Selbst, sondern nur noch aus seinem Ego heraus. So wird alles, was dem Selbst entspringt, in seiner Ausdruckskraft gehemmt. Selbstliebe, Selbstvertrauen, Selbstsicherheit und Selbstwertgefühl können sich nicht mehr frei entfalten, dazu werden die natürlichen Bedürfnisse nach Bewegung, Entfaltung, Vereinigung und Vermehrung zunehmend geschwächt und vom Ego erstickt.
Aus dem Ego melden sich ganz andere Bedürfnisse. Die Bedürfnisse des Ego entstehen durch die Verarbeitung der unzähligen Informationen, die wir tagtäglich durch Werbung, Massenmedien und unser soziales Umfeld aufnehmen und verinnerlichen. Je stärker sich diese Bedürfnisse in uns manifestieren, desto stärker wird das Ego wiederum mit Energie versorgt. Aber selbst dann, wenn diese Bedürfnisse weitgehend befriedigt werden, fehlt das alles erfüllende Selbst-Gefühl. Daher fühlen sich auch viele Menschen, die scheinbar alles haben, innerlich unbefriedigt und leer. Denn das Bedürfnis nach diesem Gefühl der Erfüllung kann durch nichts, was im Außen gesucht und gefunden wird, befriedigt werden. Das gelingt nur durch die Identifikation des Ich mit dem Selbst.
Doch die Gedanken und Gefühle von Egoisten kreisen immer stärker um die eigene Befindlichkeit. Die unerfüllten emotionalen Bedürfnisse erzeugen eine starke innere Spannung, die viele Krankheiten und großes Leid verursacht. Wenn es nicht gelingt, diese Bedürfnisse zu befriedigen, löst das Ego die innere Anspannung durch Ersatzbefriedigung. Da aber (Ersatz-)Befriedigung immer nur kurzfristig wirkt, entsteht ein Zwang zur Wiederholung und somit süchtiges Verhalten. Ob es sich dabei dann um Arbeitssucht, Kaufsucht, Erlebnissucht, Fernsehsucht, Magersucht, Esssucht, Eifersucht, Spielsucht, Sexsucht oder Drogensucht handelt, ist letztendlich egal. Jedes Suchtmittel hat dieselbe fatale Wirkung: Es „füllt“ die Leere des Ich. Der innere Spagat zwischen dem Bedürfnis nach erfüllendem Selbstgefühl und der Wirklichkeit innerer Leere wird immer extremer, verursacht durch ein Ego, das durch die Konzentration der Gefühle und Gedanken auf das Ich an Größe zunimmt, während das Selbst regelrecht verhungert. Das gilt jedoch nicht nur für den klassischen rücksichtslosen Egoisten. Auch ein kranker Mensch oder ein Gewaltopfer verhält sich egoistisch, wenn sich sein gesamtes Sein nur noch um sein Ich-Gefühl dreht. Das scheint dann zwar eher verständlich zu sein, ist deshalb jedoch nicht weniger (selbst)zerstörerisch für alle Beteiligten. Das Ego ist der am Ich haftende, selbstsüchtige Geist. Anhaften ist hier gleichzusetzen mit Festhalten, dieses Festhalten wiederum zerstört das gesunde Ich und erstickt das Selbst.
Die Opfer der Selbstzerstörung durch das krankhaft entwickelte Ego füllen heute die Praxen von Ärzten und Psychiatern. Doch die Behandlungserfolge sind ernüchternd: Auf Krankheit folgt Krankheit, auf die erste Therapie folgt die nächste. Suchterkrankungen und Depressionen sind in den Industrienationen weit verbreitete Volkskrankheiten. Suizid ist in unserer westlichen Welt (und in Japan) eine der häufigsten Todesursachen. In Deutschland sterben jährlich rund 11.000 Menschen durch Suizid. Das sind doppelt soviel Todesfälle wie im Straßenverkehr. In der Altersgruppe der 15- bis 35-jährigen Menschen ist Suizid die zweithäufigste Todesursache nach dem Unfalltod. Das mag zwar nur schwer zu glauben sein, ist aber wahr. Diese Tatsachen sind zwar offiziell bekannt, werden jedoch von Staat und Medien so weit wie möglich totgeschwiegen. Aus gutem Grund. Dieses Thema darf einfach kein öffentliches Thema werden. Die dann auftauchenden Fragen zu den Ursachen und die daraus folgenden Antworten würden die Fundamente unserer Gesellschaft grundlegend erschüttern und viele der aktuell gültigen „Wertvorstellungen“, die das Volk brav bei der Stange und die Herrscher in ihren Machtpositionen halten, in Frage stellen wenn nicht sogar pulverisieren. Die „Werte“ unserer Gesellschaften sind die Basis für ihre Existenz und gleichzeitig Ursache für die rasant zunehmende psycho-soziale Zerstörung. Suizid und viele andere Formen von Selbstzerstörung speziell bei Jugendlichen demaskieren den krankmachenden Zustand besonders unserer westlichen Leistungsgesellschaften in erschreckender Klarheit. Auch ein großer Teil von Krebs, Herz-Kreislaufkrankheiten und vielen anderen Erkrankungen lässt sich zweifelsfrei zu den direkten und indirekten Folgen dieser (Selbst-)Zerstörung zählen.
Das menschliche Ego ist der Preis des Menschseins. Ohne Ego gibt es kein Leid, aber auch keine Freude. Sowohl Leid als auch Freude sind Produkte des Egos, es sind die beiden Seiten derselben „Medaille“. Solange wir Menschen sind, werden wir unserem Ego nicht entkommen können. Doch wir können es auf einer gesunden Größe belassen und so damit zurechtkommen. Das gelingt dann, wenn wir unsere egoistische Sichtweise der Welt korrigieren und unser Leben neu ausrichten: Fort vom „Ich“, hin zum „Du“.
Dieser Lebensweg ist ein gesunder, der natürliche Weg. Es ist der natürliche Weg des Selbst. Durch den Weg über das Selbst zum Du wird das krankhaft angewachsene Ego abgebaut und das unterdrückte Selbst sozusagen „befreit“. Dieser Abbau des Egos wird auch schmerzhaft sein, denn das Ego ist stark und wird immer wieder versuchen, sich gegen sein Schrumpfen zu wehren. Es wird also innere Kämpfe geben, Fortschritt und Rückschritt. Doch letztlich wird das Ego schrumpfen müssen und damit seine destruktive Dominanz über des Selbst verlieren.
Denn der Weg des Selbst ist der Weg der Natur.
Dieser Weg endet nie und kennt kein Ziel. Er ist das Ziel.