Täglich ist von neuen Fantasiesummen die Rede, die angeblich irgendwo gerettet oder vernichtet werden. So sehr wir es auch versuchen, wir werden das Geld nie richtig verstehen. Aber war das je anders?
Die Europäische Zentralbank hat ihre Arbeit nicht erst zur letzten Jahrtausendwende aufgenommen. Bereits mehr als 800 Jahre vorher war das System der innereuropäischen Geldströme und Wechselkurse, der staatlich gelenkten Inflation und der Bankiers an den Schalthebeln der Politik vollständig ausgeprägt. Wobei die Zentrale anfangs nicht in Frankfurt am Main ihren Sitz hatte, sondern in Rom.
Der Vatikan – gestützt auf das geniale Geschäftsmodell „Geld im Diesseits gegen Erlösung im Jenseits“ – schuf die Finanzwirtschaft Europas, weil am päpstlichen Hof riesige Mengen an Peterspfennigen, Ablassgebühren sowie Pilgergeldern zusammenkamen.
Es war – angefangen bei den italienischen Zentralbänkern der Medici, Arnolfini, Chigi – fast genau wie heute: Während schlaue Experten sich des Geldes annahmen und allerorten investierten, kapierten nicht einmal die Politiker und Potentaten, schon gar nicht die gewöhnlichen Menschen, woher die Beträge stammten und wohin die Summen flossen: von arm zu reich, von fleißig zu faul. Hier wurde ein wenig vom Metallwert der Münzen abgefeilt, dort wurde das gute Geld dem schlechteren nachgeworfen, Staaten gingen bankrott, Banken blühten auf und verdorrten wieder.
Wie viele Nullen hat eine Billion?
Heute versuchen wir uns beim morgendlichen Zähneputzen vergeblich Mario Draghis Euro-Kaufprogramm von einer guten Billion bildhaft vorzustellen. Die griechischen Schuldenerlasse in endlosen Nullen immer neuer Fantastilliarden verschwimmen vor den Augen. Da ergeht es uns nicht anders als einem mittelalterlichen Handwerker, der ebenfalls keine Ahnung hatte, wie britische Wechselbriefe auf die horrende Gebühr für eine Bischofsernennung über eine toskanische Bank die Fracht einer spanischen Galeere versichern konnten. Oder so ähnlich. Oder ganz anders.
Wie viele Nullen hat eine Billion? Und bin ich eine Null, wenn ich das nicht weiß? Über all die Jahre hat kein Schulunterricht, keine Börsenberichterstattung im Fernsehen etwas daran ändern können, dass die Menschen das Geld, das sie benutzen und nach dem sie Tag und Nacht streben, nicht im Geringsten verstehen.
Oder kann jemand aus dem Stand den Zusammenhang zwischen einem monströsen Ankaufprogramm für Staatsanleihen, der Inflation in Italien, dem Zinssatz fürs eigene Sparkonto, dem Schuldenschnitt in Griechenland und der sogenannten Bankenrettung herstellen? Gibt es diesen Zusammenhang überhaupt? Und wo bleibt das ganze Geld, wenn bei mir persönlich so wenig davon ankommt, während die Superreichen ihr Vermögen alle fünf Jahre verdoppeln?
Es gab freilich eine Zeit, da war alles ganz einfach. Da gab es immer dieselbe Währung, die hieß in Ost und in West Mark, und die blieb immer gleich. Im Osten gab es recht viel davon, aber die Menschen konnten sich recht wenig dafür kaufen.
Skeptischen Bundesbankchef entsorgt
Darum träumten sie von der Westmark, die den Menschen in Westdeutschland soliden Wohlstand, Autos, Flugreisen und hässliche teure Klamotten bescherte, ohne dass jede Woche der Zusammenbruch der Finanzordnung drohte. Später kamen die Menschen im Osten dann nur ein gutes Jahrzehnt lang in den Genuss der ersehnten Westmark, weshalb viele von ihnen jetzt arg griesgrämig sind. Denn schnell wurde alles anders. Es kam der Euro.
Erinnern wir uns noch an die aufregenden Tage, als das neue Geld eingeführt wurde. In langen Debatten hatten die Politiker aller Parteien die Bedenken wegdiskutiert und den skeptischen Bundesbankchef vorsorglich entsorgt. Das Volk hatte man ohnehin nicht gefragt, weil es den Euro per Abstimmung nie gegeben hätte.
Aber es war alles felsenfest gezurrt und vereinbart: Kommt ein Euro-Staat in Zahlungsnöte, muss er sich selbst aus der Patsche helfen. Keiner wird die Schulden der anderen bedienen. Die Zentralbank hütet streng wie die Bundesbank den Wert der neuen Europawährung; es gibt Stabilitätskriterien und Schuldengrenzen, die verbindlich eingehalten werden. Und ein Ankauf maroder Staatsanleihen aus der allgemeinen Kasse ist sowieso verboten.
Ein echter Krimi, dieser Euro!
Man könnte jetzt eine schöne Büttenrede aus solchen Floskeln zusammenstellen. Oder einen Sketch mit Helmut Kohl und Theo Waigel zum 15-jährigen Jubiläum des Euro. Da wäre dann hellseherisch vom De-facto-Staatsbankrott der Griechen die Rede und davon, wie die Zyprioten/Iren/Portugiesen ebenfalls vor der Pleite stünden. Und dass man das vielleicht mit einem bilanztechnisch kreativen Billiardenprogramm der EZB in den Griff kriegen könnte oder notfalls mit einem aufgespaltenen Nord- und Süd-Euro, wobei aber die Frage der Schuldenübernahme nicht geklärt ist. Oder sollten die Griechen nicht besser übergangsweise einen internen Transfer-Euro einführen? Und mit etwas Glück und flotter Bilanzfrisur kann vielleicht der drohende Kollaps in Italien und Frankreich verhindert werden.
Wenn da nicht der neue griechische Finanzminister wäre, der partout seine himmelhohen Verbindlichkeiten nicht bedienen will und dafür den aggressiven Deutschlandhass zum Volkssport erklärt hat. Sicher, diese brennenden Merkelpuppen überall im Süden sind kein wirklich netter Anblick. Und ausgerechnet ein Italiener wurde Bankpräsident, der als kreativer Comandante den maroden Euro-Dampfer irgendwie über Wasser hält, wenn er immer mal wieder eine Billion unter den Kiel fluten darf, damit das Boot nicht an jeder, aber auch an jeder kleinen Mittelmeerklippe hängen bleibt. Ein echter Krimi, dieser Euro. Wer hätte das gedacht? Junge, wie die Zeit vergeht! Tusch, Narhallamarsch. Kohl und Waigel treten lachend ab.
Schließlich war die letzte gescheiterte Gemeinschaftswährung der jugoslawische Dinar. Dessen Ende kostete Hunderttausende Menschen das Leben
Das Szenario klingt eher nach 15 Jahren Albtraum. Klingt nach windigen Konkursverschleppern vorm Amtsgericht. Klingt mehr nach einer finanzpolitischen Totgeburt als nach einer epochalen Kontinentalwährung. Wie auch immer – wir haben uns im Trommelfeuer der schlechten Nachrichten an diese Währung, die einfach nicht währen will, längst gewöhnt. Wir tragen die pastellfarbenen Scheine mit dem stolzen Autogramm von Mario Draghi in unseren Portemonnaies und versuchen, sie bloß nicht mit dem Wert der alten D-Mark zu verrechnen, weil wir sonst trübsinnig würden.
Gottes Wertschöpfung imitieren
Und wir fürchten obendrein, dass ein ungeordneter Zusammenbruch des Euro alles noch viel fürchterlicher machen könnte, als es eh schon ist: Staatspleite, Bankenrun, Arbeitslosigkeit, Hyperinflation, Suppenküchen. Schließlich war die letzte gescheiterte Gemeinschaftswährung der jugoslawische Dinar. Dessen Ende kostete Hunderttausende Menschen das Leben. Sollen wir da um unsere mickrigen Ersparnisse bangen, wenn es an der Ägäis oder Algarve so viele arme Leute gibt, die man damit – abzüglich Bänkerboni – ein paar Tage glücklich machen könnte?
Das Funktionieren von Geld, welches aus dem Lumpen- und Sägespanprodukt Papier oder heutzutage gleich aus Bites besteht und für seine Besitzer gleichwohl Essen, Kleidung, Wohnung, Luxus geriert, ist ein wahres Wunder. Dass ohne Arbeit, einfach nur durch verrinnende Zeit Geld sich verzinsen und vermehren kann, dass aber auch herumliegende Münzen, die gestern ein Vermögen waren, plötzlich nichts mehr wert sein können – solche Zauberkunststücke des Geldes hat die Kirche des Mittelalters zutiefst irritiert.
Zinsen verlangen und damit Gottes Wertschöpfung aus dem Nichts zu imitieren, wurde Christenmenschen kurzerhand verboten. Dieses Verbot umgingen die italienischen Profis naturgemäß sogleich mit allen Tricks. Und schon um 1450 hatte der Notarsohn Antonino Pierozzi, seines Zeichens Erzbischof von Florenz und Freund der Medici-Bankiers, eine elegante theologische Rechtfertigung für Kapital, Gewinn und Zinsen gefunden. Die verdiente Heiligsprechung folgte 1523.
Was genau war nochmal der Diskontsatz?
Bald surrte die Maschine des europäischen Bankwesens wie geschmiert, liefen Wechselbriefe, Warentermingeschäfte, Versicherungspolicen, Valutagebühren zwischen Genua und Lima, Amsterdam und Bali, London und Riga hin und her. Der Kapitalmarkt hat zur globalen Vorherrschaft Europas mindestens so viel beigetragen wie die hohe Geburtenrate und die Feuerwaffen. Und Karl Marx kam aus dem Schwärmen über die kreative Zerstörungskraft des Kapitalismus gar nicht mehr heraus. Erzgruben, Spinnereien, Fabriken, Handelsflotten – all das entstand im Handumdrehen aus so etwas Banalem wie Geld.
Anderseits konnten ganze Volkswirtschaften mit ein paar klugen Währungsmanipulationen in Armut gestürzt werden, wie es der Historiker Wolfgang von Stromer über seine eigenen Vorfahren von der Nürnberger Hochfinanz der Renaissance beschrieben hat. An diesem historischen Prozess, der die ganze Welt für Europa in Kolonien und Absatzmärkte einteilte, hat auch der Euro seinen späten Anteil. Wir können zwar nicht vorgeben, dass wir ihn begreifen. Schon gar nicht, dass es ähnlich lukrativ weitergeht. Aber wir können sagen, wir sind dabei gewesen.
Doch was genau stellt der Euro mit uns an? Er ist ein genialer Vermittler zwischen unserem Traum vom Geld und der gnadenlosen Wirklichkeit. Als er eingeführt wurde, betrugen unsere Ersparnisse und unsere Gehälter in Euro nurmehr die Hälfte vom D-Mark-Wert. Bald darauf kostete die Tasse Espresso, die vorher eine Mark billig war, einen teuren Euro. Und unsere Miete war in Euro sogar noch höher als vorher in Mark. Aber keine Angst, sagten uns die Experten von der EZB, damals noch unter dem legendären holländischen Rudi-Carrell-Imitator Duisenberg: Es gibt unterm Euro keine Inflation. Was ja auch stimmte, wir hatten bloß das Gehalt halbiert bekommen.
Vom Tisch gewischt sind all die bunten Schillinge und Gulden, Peseten und Francs, Escudos und Drachmen, die wir vor dem Urlaub immer mühsam umwechseln mussten
Und weil es bis jetzt immer noch keine Inflation gab, soll jetzt endlich eine kommen, damit noch mehr los ist in der wackligen Bude der Staatsobligationen, der Spreads, der Target-Konten und der Draghi-Bazookas. Dabei wussten wir schon vorher nicht, was der Unterschied zwischen Diskontsatz und Lombardsatz ist. Und das Greshamsche Gesetz, dem zufolge Bankiers besseres Geld horten und nur schlechteres in Umlauf bringen, war wohl sogar den Kleinsparern Waigel, Eichel und Schäuble unbekannt.
Jetzt sind der Spread und die griechische Etat-Disziplin, die uns vorher völlig zu Recht völlig wurscht waren, unser Schicksal. Jetzt hat ein Nachfahre der alten Lombarden-Bankiers, der listigen Medici-Investmentbanker und des Heiligen Antoninus von Florenz auf Europas Vabanque-Thron bei der EZB Platz genommen.
Vom Tisch gewischt sind all die bunten Schillinge und Gulden, Peseten und Francs, Escudos und Drachmen, die wir vor dem Urlaub immer mühsam umwechseln mussten. Und die D-Mark ist auch futsch, dabei hatten sogar die Menschen im Ausland sie so sehr geliebt, dass sie etwa in Bosnien freiwillig die Mark als Währung übernahmen. Aber die kreative Abrissbirne Geld kennt keine Nostalgie.
Milchschaum und Inflation
Geht es uns denn mit dem Euro besser? Können wir wie Graf Zahl den galoppierenden Irrsinn der Nullen und Trillionen grinsend kontern? Immerhin müssen wir nicht wie unsere lange verstorbene Oma vorm Geldverfall bibbern. Wir können uns gar nicht mehr an Omas Jugendzeit erinnern, als sie mit einem Bollerwagen voller Geldscheine keinen einzigen Laib Brot kaufen konnte. Als das Ersparte, schwups!, nicht einmal mehr das Papier wert war, auf das der Staat es vorwitzig gedruckt hatte. Wer heute so etwas Absurdes fürchtet, ist höchstens neurotisch und muss zur Therapie. Oder gleich zur AfD.
Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem der Euro kam. Es war der 1. Januar 2002, ein frischer sonniger Morgen damals in Venedig. Man stand auf, und in den italienischen Bars hielt man sich sofort nicht mehr an den vereinbarten Wechselkurs, sondern pumpte gut gelaunt den Cappuccinopreis auf wie den Milchschaum in der Tasse. Vorbei war’s mit den vielstelligen inflationären Lira, eine neue Epoche transnationalen Wohlstands war angebrochen. In Frankfurt, zeigten die Nachrichten, standen ein paar Unentwegte vor einem leuchtenden Euro-Denkmal, tranken Champagner auf die Beerdigung der D-Mark und wussten wahrscheinlich, warum.
So ähnlich sah es auch das junge französische Paar, das im Urlaub in Venedig diesen europäischen Feiertag im Film festhalten wollte. „Les premiers Euros“, sprach der Mann in sein Kameramikrofon, bevor seine Frau die frischen Scheine aus dem Geldautomaten holte. Aber die italienischen Bankangestellten waren nicht so dämlich gewesen wie ihre Kollegen im Ausland, die mitten in der Nacht bereits alles umgestellt hatten. Aus dem Geldschlitz kam ein Batzen aller Lira, und die beiden Franzosen schauten sehr enttäuscht drein. Wie viel Wahrheit in diesem Blick lag, konnte damals noch keiner ahnen.